Louis Spohr 1784 - 1859



"Vorrede" aus
"Louis Spohr's Selbstbiographie - Erster Band.
Cassel und Göttingen:
 Georg H. Wigand. 1860 "
in
"Louis Spohr Selbstbiographie - Erster Band -
Originalgetreuer Nachdruck in Verbindung mit der Stadt Braunschweig und der Stadt Kassel, 
herausgegeben von Eugen Schmitz",
erschienen im "Bärenreiter-Verlag Kassel und Basel 1954"

Wenn wir versuchen, in diesem Vorworte, welches die schmucklose Selbstbiographie des allgemein verehrten Meisters bei dem größeren Publikum einführen soll, in einigen Hauptzügen einen kurzen Ueberblick über das Wesen eines so bedeutenden Mannes, eine der edelsten Naturen zu geben, so möchte dies von manchem kaum für nöthig erachtet werden, da sein Charakter in weitem Kreise bekannt ist und sich in den eigenen Schilderungen, welche dieses Buch bringt, genügend und besser als es die Worte eines Anderen vermögen, kund giebt; - ja, es könnte das, was hier mitgetheilt werden soll, Einzelnen vielleicht im Lichte eines befangenen Urtheiles erscheinen, als eine in Biographien, die ihren Helden über Alles stellen, häufig vorkommende Beschönigung oder übermäßige Erhebung alles dessen, was Spohr  war und was in seinem Leben und Wirken hervortrat. Diese Besorgnis darf uns jedoch nicht abhalten, die Beobachtungen, welche wir aus unmittelbarer Nähe zu machen Gelegenheit hatten, darzulegen und die hierdurch gewonnene Ueberzeugung auszusprechen. WIr gestehen es offen, wir sind in Folge eines langen vertrauten Umganges so durchdrungen von Bewunderung und Ehrfurcht für diese seltene Vereinigung eines eben so großen Künstlers als edlen Menschen, daß wir gerne schon im Voraus - wenigsten für die, welche ihm im Leben nicht nahe genug gestanden haben, um seine ganze Eigenthümlichkeit zu erkennen oder zu durchdringen, - einige Züge seines Wesens und Charakters zusammenstellen möchten, welche zur Ergänzung und näheren Beleuchtung des harmonischen Lebensbildes beitragen mögen, welches er selbst in so anspruchsloser Weise hier allmählig vor uns aufrollt, und in denen manche Einzelheiten ihre Erklärung finden dürften.

Schon nach dem, was allgemein bekannt und anerkannt ist, wird man leicht zugeben, daß die Künstlergeschichte nicht eben reich an Persönlichkeiten ist, welche der unseres Spohr zur Seite gesetzt werden können, welche sich, so wie er, in allen Verhältnissen eines langen Lebens frei und rein erhalten haben von den Verführungen, denen solche in die Oeffentlichkeit tretende große Männer ausgesetzt sind. Wohl ist es schön, grade in der gegenwärtigen Zeit ein Fürst auf dem Gebiete der Musik zu sein, wo eine richtigere und vollkommenere Erkenntnis des Einflusses, den diese auf die allgemeine Bildung, auf Sittlichkeit und Seelenerhebung hat, ihr eine so hohe Stelle anweisen, wo diese edle Kunst besonders gepflegt und geliebt wird und deshalb die Meister derselben vor anderen Kunstkoryphäen Vieles voraus haben; - doch unzertrennlich von diesen Vortheilen sind auch die Klippen, Berühmtheit und Genialität heut zu Tage wie zu allen Zeiten haben scheitern sehen. Aber alle Verführungen eines aufregenden, der Oeffentlichkeit anheim gefallenen Lebens, zu dem die Meister der Tonkunst von vorne herein verurtheilt sind, sie prallten ab an dem so zu sagen exclusiven Charakter unseres Spohr, der nur seiner 'Idea', wie Raphael sagt, seiner Kunst lebte, die er von ganzer Seele liebte und heilig hielt. Für die er mit allen Kräften wirkte. Hierin lag ihm der Zweck, die Aufgabe seines Lebens, der Beruf, den er fast sechszig Jahre hindurch mit einem Ernst und einer Treue erfüllte, welche ihn vor vielen nahe liegenden Abwegen sicherten.

Nie sind einem Künstler wohl mehr Huldigungen jeder Art dargebracht, als ihm, und wie bescheiden, wie anspruchslos ist er dabei geblieben. Ja, wir waren oft Zeuge, daß starke Ausbrüche des Beifalls über seine Leistungen ihn eher drückten und belästigten als erfreuten. Wenn er sich bei seinem Spiele selbst genügt hatte, war er schon allein hierdurch zufrieden; hörte er jedoch von einem begeisterten Musikfreunde, oder etwa einer musikalischen Größe, die er für urtheilsfähig hielt, ein anerkennendes oder lobendes Wort aussprechen, dann lächelte er wohl und es flog ein Zug von Behagen über sein edles Gesicht, oder er knüpfte allenfalls auch einen Scherz daran. Dagegen sagte es ihm wenig zu, wenn er nach seinem meisterhaften Spiel in Concerten, so wie nach Aufführung seiner Werke, oder bei Festlichkeiten, die man ihm zu Ehren im Theater veranstaltete, z.B. bei seinem Jubiläum, stürmisch hervorgerufen wurde, wonach Andere so oft begierig streben. Er äußerte dann wohl, 'es sei ihm, als wenn er auf das Schaffot geführt würde.

Auch nach anderer Richtung hin gab sich seine einfache, bescheidene Weise kund. Ich habe ihm oft namhafte und unnamhafte Fremde, die mich darum baten, zugeführt und zwar zu jeder Tageszeit, die nicht in Kassel gewesen sein wollten, ohne Spohr  gehört zu haben; und immer ging er auf das Ersuchen ohne Umstände ein und spielte mit seiner Frau einige seiner schönen Salonstücke und dgl., als wenn es nicht anders sein könnte. ein Preciösthun, wie man es bei Künstlern findet, war ihm ganz fremd; er war immer bereit durch Musik zu erfreuen. So war er auch jeden Abend bis zum spätesten Alter gern erbötig, Quartett zu spielen, sofern nur die zur Mitwirkung nöthigen Musiker herbeizuschaffen waren, wodurch den Kasseler Musikfreunden während einer langen Reihe von Jahren die größten Kunstgenüsse geworden sind; denn in dieser Weise, wie es hier geschah, so eingehend in den Sinn der Compositionen, wird man gewiß nicht leicht wieder Quartetten von Haydn, Mozart, Beethoven und Spohr  vortragen hören!

Als ein ferneres Zeugnis für sein einfaches Wesen, und seinen Sinn für Zurückgezogenheit können wir anführen - um aus vielen Zügen einen hervorzuheben - dass er die im Anfange gemiethete schöne Wohnung in der Bellevue zu Kassel bald verließ, um sie mit einer friedlichen Ländlichkeit, mit einer kleinen Gartenwohnung zu vertauschen, während seine Einkünfte wohl ausgereicht hätten, sich seinen Verhältnissen gemäß auf größerem Fuß einzurichten.  Daselbst lebte er und schaffte er während sechsunddreißig Jahren in einem Parterrezimmer von etwa vierzehn Fuß Länge und Breite; ein etwas größeres diente zum Quartettspiel. Später ließ er einen kleinen Musiksaal anbauen, nicht des Luxus wegen, sondern zur Ehre der Kunst, damit die Musik sich besser darin ausnehme. Die bescheidene Einrichtung seiner Arbeitsstube, ohne Sopha, behielt er bis an sein Ende bei, weil er von einem dolce far niente nichts wußte. Jede Mußestunde brachte er in seinem Gärtchen, zwischen seinen Blumen zu, die er sehr liebte und mitunter sorgsam pflegte.

Noch ein Beweis, wie wenig er nach äußeren Ehren strebte, liegt wohl darin, daß er - ebensowenig wie seine Musik um den Beifall der Menge buhlte - niemals einem Fürsten oder Großen irgend eine seiner Compositionen zugeeignet hat (er müßte denn ganz unabweislich dazu aufgefordert sein, was wohl einige Male geschehen ist), wohl aber öfter seinen Freunden und Collegen. Ebenso waren auch die Orden, mit denen er überhäuft wurde, ihm sehr lästig, weil er sie doch bei feierlichen Gelegenheiten Ehren halber tragen mußte. So kam es einst, daß er auf dem Wege nach dem Theater, wo er zur Feier des kurfürstlichen Geburtstages die Festoper zu dirigiren hatte, bei einer Wärme von etwa zwanzig Graden in einen Wintermantel eingehüllt, getroffen wurde. Ein Begegnender fragt ihn theilnehmend, 'ob er denn krank sei?' 'O, nein', entgegnet er, seinen Mantel zurückschlagend und die Brust voll Orden zeigend, 'ich schäme mich nur, so über die Straße zu gehen.

Diesen Zügen einer fast kindlichen Bescheidenheit könnten wir hier noch viele von seiner eben so seltenen Uneigennützigkeit anreihen, wir überlassen es indessen der Lebensbeschreibung selbst, den Beweis hierfür im Allgemeinen zu liefern, und erinnern nur daran, was schon in Nekrologen häufig angeführt wurde, wie er auf das für jedes Jahr ihm zugesicherte Benefiz-Concert verzichtete und dafür vom Kurfürsten die Erlaubnis erbat, in jedem Winter sechs Concerte für einen von ihm zu gründenden Unterstützungsfond für arme Musiker und deren Nachkommen, unter Mitwirkung des Orchesters und des Opernpersonales, zu geben. Eben so aufopfernd war er, wenn Schüler, die in großer Zahl hier eintrafen, talentvoll aber dabei mittellos waren. Dann verabschiedete er gerne die weniger versprechenden, wenn auch zahlenden Schüler, um jenen seine Zeit und Kräfte zuzuwenden, durch deren Förderung er zugleich zum Besten der Kunst zu wirken hoffte.

Wenn man Spohr öfter im Leben wortkarg fand - worüber ich häufig habe klagen höre - so war der Grund dazu nicht Unfreundlichkeit, Stolz oder Theilnahmlosigkeit gegen Andere; sondern es lag dies an seinem fortwährenden Schaffen, bei dem ihm die durch Anreden verursachten Störungen zuweilen unangenehm und lästig waren. *)
(*) So erzählt man sich auch, daß der sonst so gesellige Mozart  einst beim Billardspiel nicht geantwortet und immer vor sich hingebrummt hat; als er darüber zur Rede gesetzt wird, sagte er, daß er grade die Melodie für Papageno ausgebildet, die dieser mit dem Schlosse vor dem Munde vorzutragen habe.)

Wenn er ging und stand war er meist mit musikalischen Ideen, die ihm eben zuflossen oder die er im Geiste ausarbeitete, beschäftigt; als ich ihn einst, da er den siebenziger Jahren nahe war, fragte, warum er nicht vorzöge, einen Wagen zu nehmen, um den weiten Weg bis zur Schwimmanstalt zurückzulegen, antwortete er mir, daß er beim Hinab- und Heraufsteigen in der Regel nicht viel vom Wege merke, weil er fortwährend componire. Ja, gewöhnliche Menschen wissen nicht, welche Qual sie einem Manne bereiten, der vom Himmel dazu bestimmt ist, zur Erhebung der Seelen schöpferisch zu wirken, wenn sie zur Unzeit mit ihm von alltäglichen Dingen reden, wenn er sich mit leeren Formen der Höflichkeit und Etiquette befassen soll! - Man mußte das Glück haben, Spohr  grade in einem unbeschäftigten Augenblicke  zu finden, wo sein Geist nach einer vollendeten Arbeit einen Moment ruhete, wenn man sich seiner gesprächigen Laune erfreuen wollte; oder man mußte ihn hören, wenn er von einer Reise zurückkam, wie er mit der liebenswürdigsten Beredtsamkeit von allem Erlebten die lebhafteste und genaueste Rechenschaft gab. Die Gewandtheit der Rede, die Schärfe des Ausdruckes, die Lieblichkeit der Vortragsweise bei solchen Gelegenheiten, so auch wenn er aus seinem Leben erzählte, war, wie mancher Glückliche erfahren hat, ganz bezaubernd und wer ihn je so mittheilend gesehen, der würde nicht begreifen können, wie man demselben Manne den Vorwurf der Wortkargheit machen konnte, wenn diese nicht eben ihre Erklärung gefunden hätte.

Neben seiner Bescheidenheit und Uneigennützigkeit war die Freiheitsliebe (im besten Sinne des Wortes) ein hervorstehender Charakterzug dieses bedeutenden Mannes. Wie allen hohen edlen Seelen war ihm die Unredlichkeit, das Abweichen vom Gesetzmäßigen - an welchem er auch in seiner Kunst so streng festhielt - in den Tod zuwider. Seine bekannte Hinneigung zur sogenannten liberalen Seite, die ihm wohl von oben her zum Vorwurfe gemacht ist, war eine natürliche Folge davon. So haßte er unverholen die Willkühr, den Druck, die Verfolgung und suchte ihnen um der guten Sache willen überall nach Kräften entgegen zu treten, ja er sprach sich wenigstens, wenn er nicht dagegen ankämpfen konnte, ohne Scheu und im Innersten entrüstet darüber aus. Im Gegensatze hierzu ordnete er sich selbst willig Allen unter, zu denen er im Verhältnis der Pietät stand, wie seinen Eltern, Lehrern, Obern ec. Sein andauernd gutes Verhältnis mit Freunden, Collegen *)

(*) In Folge hiervon findet sich unter seinen Papieren ein reicher Schatz an musikalischen Gedenkblättern, welche in mannigfacher Hinsicht Werth und Interesse haben. Sie bestehen aus noch ungedruckten Antiphonien, Canons, Liedern, Menuetten, Präludien, Capricien, Duettino's, Terzetten, Nachtgesängen, Märschen, Chören ec., z.B von  Beethoven, Cherubini, Mozart (dem Sohne),  Meyerbeer, Carl M. v. Weber, Hummel, Zelter, A.Hoffmann, Hauptmann, Ries, Romberg, Morlacchi, Clementi, Danzi, Moscheles, Robe ec.)
und Schülern ist vielfach besprochen, er kannte keinen Neid, sondern nur die aufrichtigste Freude über die Erfolge und Leistungen Anderer; er hatte daher eigentlich  k e i n e n Feind, was wohl im Leben eines Mannes, der so lange gewirkt hat und mit Tausenden in die verschiedenartigste Berührung gekommen ist, sich nicht oft wiederholen mag.

Die Harmlosigkeit, ja man darf sagen, die Kindlichkeit seines Wesens, verbunden mit der Unfähigkeit nachzutragen, welche ihm bis in's hohe Alter blieb, hat sich wohl nie auffälliger erwiesen, als da er im November 1857 plötzlich  g e g e n seinen Wunsch pensioniert wurde und zwar mit einer geringeren Summe als der, auf welche er hätte Anspruch machen können. Er ließ sich dies nicht allein ohne Widerspruch gefallen, indem er meinte, da er von nun an nichts mehr zu leisten habe, so sei es ja eigentlich schon Geld genug, und dann könne er sich wohl diesen Abzug gefallen lassen mit Rücksicht auf die nun endlich erlangte volle Freiheit reisen zu dürfen, wann und wohin er wolle; eine Freude, die ihm früher so oft durch verweigerten Urlaub verkümmert worden war;  - sondern er ging sogar auf den Wunsch der Theaterbehörde ein, noch nach seiner Verabschiedung, als Schluß seiner Wirksamkeit eine seiner Opern (zum großen Gewinne der Theaterkasse) nochmals zu dirigieren. Er zeigte also keinen Groll über die unwillkommene und ihn verkürzende Verabschiedung, selbst nicht als sein Abschiednehmen in recht auffallender Weise auf dem Theaterzettel angezeigt wurde.

Haben wir nun in dem bisher Gesagten nur einige allgemeine Anschauungen von dem liebenswürdigen Charakter unseres verewigten Meisters zu geben versucht, die in seinem hier folgenden Leben ihre Bestätigung finden werden, so sei es uns zum Schlusse vergönnt, noch auf einige einzelne Momente dieses Lebens hinzuweisen, die vielleicht in den Augen mancher Leser einer Erläuterung zu bedürfen scheinen.

Spohr   war, wie alle edlen Naturen, streng sittlich und von einer fast mädchenhaften Züchtigkeit. Von dieser Ueberzeugung werden wir grade am lebhaftesten durchdrungen bei dem Lesen der naiven Bekenntnisse einiger in früheren Jahren vorgekommenen Liebesgeschichten. Einem warm fühlenden, poetischen und für alles Schöne begeisterten jungen Manne, der so häufig in den Compositionen Anderer die Liebe schildern hört und selbst dieses menschlichste aller Gefühle musikalisch auszudrücken hat, kann man es nicht übel deuten, wenn er schönen Frauengestalten, die sich ihm wegen seiner anziehenden Persönlichkeit naheten, nicht gram war. Bei seinem Charakter, bei seiner strengen Sittlichkeit hielt er sich dabei aber immer in den Grenzen des Erlaubten, wenn auch durch seine Annäherung, oder vielmehr durch sein nicht Zurückstoßen, hie und da Hoffnungen einer Verbindung auf Lebenszeit erregt sein mögen, die aber zu seinem Glücke und zum Heile der Kunst sich  nicht realisirten, bis er die wahre ihm ebenbürtige Gefährtin für's Leben gefunden hatte!

Spohr   zeigt sich überall muthvoll, entschlossen, tapfer, mit einem Worte echt männlich; nur einmal mag er einer Gesellschaft in einem anderen Lichte erschienen sein, als er an einer Wirthstafel von einer Ohnmacht befallen wird, weil er sich am Zeigefinger der linken Hand beim Brodschneiden ein Stück der Fingerspitze abgeschnitten hat. Seiner Umgebung, die in dem Augenblick an die Größe der wahrscheinlichen Folgen dieser Verletzung, die Spohr mit einem Male in ihrer ganzen Totalität erfaßte und deren erschütterndes Gewicht ihn zu Boden schlug, nicht entfernt denken konnte, mochte der Contrast zwischen dem überkräftig aussehenden Manne und dieser Anwandlung von Schwäche nicht wenig auffallen. Wir können uns dagegen in diese vernichtende Gedankenreihe, die Spohr auf ein Mal überkommen mußte, wohl hineindenken und fühlen, wie ihm die furchtbare Aussicht nahe trat, seiner Kunst, dem Geigenspiel, welches er auf den Gipfel der Vollkommenheit gebracht, dem er den größten Theil seiner Jahre gewidmet, wodurch er sich und die Seinen zu ernähren hatte, nun vielleicht für sein ganzes Leben entsagen zu müssen. Dieser Eindruck war ein zu überwältigender!

Einiges ähnliche Andere, welches eine Erklärung verlangt, soll an seiner Stelle durch Anmerkungen in das richtige Licht gestellt werden.

Die Aufzeichnungen seiner Erlebnisse, die uns Spohr in den hier folgenden Blättern hinterlassen hat, reichen bis zum Anfange seines Kasseler Aufenthaltes, also bis zum Jahre 1822 und sind in den Jahren 1847 bis zu Anfang des Jahres 1858 niedergeschrieben. Leider ist da unser Autobiograph mit einem Male verstummt, und es muß für die spätere Zeit eine aus vielen vorhandenen Quellen geschöpfte, mehr historische Darstellung seines bewegten Lebens an die Stelle der unmittelbaren eigenen Mittheilung treten; auch diese wird es sich jedoch zur Aufgabe machen, neben den äußeren Erlebnissen auch sein reiches inneres Leben, seine musikalischen Ansichten und Urtheile, wie sie aus seiner umfassenden, höchst interessanten Korrespondenz zu entnehmen sind, vor dem Auge seiner Freunde und Verehrer zur Anschauung zu bringen.

Das letzte Jahr unseres Meisters war ein höchst trauriges für ihn und die Seinigen, indem er aus der geistigen und körperlichen Lethargie, in welche ihn Altersschwäche, vor Allem aber die Folgen eines Armbruches (am zweiten Weihnachtstage 1857) versetzt hatten, sich nur für Augenblicke erheben konnte. Grade die leibliche Stärke, wie die Geisteskraft, womit ihn der Himmel so reichlich ausgestattet und vor Anderen bevorzugt hatte, wurde in dieser Zeit für ihn die Quelle eines doppelten Leidens; denn einmal erschwerte es ihm sein äußeres Dasein, daß die altersschwach gewordenen Füße den fast sieben Fuß hohen Körper von verhältnismäßigem stattlichen Umfange nicht mehr tragen wollten, - und zweitens mußte ein Mann wie er, der früher an alle Leibesübungen gewöhnt war mit denen ein körperlich starker Mensch dem Uebermaaß seiner Kräfte Rechnung trägt, an Schwimmen, Fußtouren, Schlittschuhlaufen ec., der außerdem sechs bis acht Stunden täglich durch Geigenspiel, Componiren, Dirigiren, Unterrichtgeben, Correspondenzen der ausgedehntesten Art, als Vorsitzender bei so vielen Preisvertheilungen für musikalische Werke ec. ec. ausfüllte, der also während eines so langen Lebens an eine seltene körperliche und geistige Thätigkeit sich gewöhnt hatte, - dieser mußte, als er mit einem Male dies Alles einzustellen gezwungen war, sich höchst unglücklich fühlen und es ist kein Wunder, daß in dieser Zeit, so treue Liebe und Freundschaft ihn auch in engen Kreisen umgab, der Wunsch nach Erlösung aus diesem unthätigen und darum für ihn freudlosen Leben, mehr und mehr sich in ihm festsetzte. So ist er dann auch, als die Stunde kam, die ihn zu einem höheren Dasein abrief, mit dem Ausdrucke der größten Zufriedenheit in seinen schönen edlen Zügen sanft entschlafen, und sein Andenken wird segnend fortwirken im Großen und Kleinen, sowohl durch die Werke, die er geschaffen hat, als durch das Beispiel seiner persönlichen Tugenden, für welche dieses Buch Zeugnis ablegt.

Cassel, im Januar 1860.

       W.