Von Zeitgenossen bejubelt, von der Nachwelt kaum beachtet – vergleichbare Schicksale teilen die Oper Jessonda und ihr Schöpfer Louis Spohr. Dabei lohnt es sich, beide neu zu entdecken: Immerhin bietet die Oper eine auch musikalisch beispielhaft schöne Geschichte um Toleranz und Völkerverständigung.
In einem Artikel der Allgemeinen Musikalischen Zeitung konnte man 1825 lesen: „Nächst Weber ist es Ludwig Spohr […] gelungen, Aufmerksamkeit und Beyfall im hohen Grade zu erlangen; ja durch seine Oper Jessonda hat er sogar im nördlichen Deutschland mit dem Componisten des Freyschützen glücklich um die Palme gerungen.” Im Gegensatz zu Webers Oper wird Jessonda heute nur noch selten aufgeführt. Doch zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das ganz anders. Louis Spohr hatte schon mit seinem 1813 in Wien komponierten Faust einen wichtigen Beitrag zur deutschen romantischen Oper geleistet. Mit seiner 1822 vollendeten Jessonda plante er dann erklärtermaßen, die Entwicklung voranzutreiben. Auf formaler Ebene erzielte er große Fortschritte, indem er den gesprochenen Dialog in Rezitative verwandelte und bemüht war, die einzelnen Nummern der Oper musikalisch miteinander zu verbinden und zu größeren Szenenkomplexen zu gruppieren.
Nach der napoleonischen Besatzung Deutschlands und dem erwachenden Nationalgefühl suchte man nach „deutschen Meisterwerken” auch auf der Opernbühne. Man fand sie vor allem in den Werken Spohrs, Webers und Marschners. Allerdings eigneten sich
Spohrs Opern kaum als Folie für einen tumben Nationalismus und so gerieten sie nach 1871 immer stärker in Vergessenheit. Die Nazis bereiteten mit ihrer Unterdrückung der Jessonda der Rezeptionsgeschichte spohrscher Opern ein vorläufiges Ende. Gerade wegen ihrer dramaturgischen Intelligenz und ideologiekritischen Grundhaltung hätten sie aber eine Wiederentdeckung mehr als verdient.
Jessonda präsentiert vordergründig zunächst eine klassische Liebesgeschichte, die sich vor der Kulisse Goas im sechzehnten Jahrhundert abspielt. Gemäß einer indischen Tradition soll Jessonda als Witwe eines verstorbenen Rajahs mit der Leiche ihres Gemahls verbrannt werden. Zunächst fügt sie sich in das Geschick, dass ihr von dem jungen Brahminen Nadori verkündet wird. Unterdessen ist jedoch der portugiesische General Tristan d’Acunha mit einem Heer an der Küste gelandet und nähert sich der Stadt. In dem Glauben, es handele sich um eine harmlose religiöse Zeremonie, schließt er mit dem indischen Oberpriester Dandau einen Waffenstillstand für die Dauer des Opfers. Zu spät versteht er den wahren Charakter der Zeremonie und muss auch noch erkennen, dass das Opfer seine verloren geglaubte Jugendliebe Jessonda ist. Rettung aus dem Dilemma bringt Nadori, der von einem geplanten Bruch des Waffenstillstandes durch Dandau berichtet und so Tristan von seinem gegebenen Ehrenwort befreit.
Nadori verkörpert dabei gewissermaßen Kants Definition der Aufklärung, denn er vollzieht den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit” im Laufe der Oper exemplarisch nach. Schon in seinem Duett mit Dandau am Beginn des ersten Aktes deutet sich das auch musikalisch an. Überhaupt ist die Musik dieser Oper nicht nur ausgesprochen schön, sondern auch höchst intelligent. So werden z. B. Inder und Portugiesen zwar in ihren jeweiligen Szenen musikalisch geschickt charakterisiert, als sie sich aber mit gezogenen Schwertern gegenüber stehen, verfallen sie in einen Kanon. Im Geklirr der Waffen verstummen die kulturellen Unterschiede. Der Sieg des Guten in dieser Oper verdankt sich so einer konsequent aufgeklärten Haltung auf beiden Seiten. Eine Dramaturgie also, von der wir auch heute noch viel lernen können.
Wolfram Boder
aus: [t]akte 1/2009